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Wer will ich sein? – Finn-Ole Heinrichs Debütroman „Räuberhände“

Der junge Autor hat ein außergewöhnliches Erzähltalent

© Die Berliner Literaturkritik, 21.04.08

 

Man stelle sich vor: Tom Sawyer und Huckleberry Finn in unserem Zeitalter und aus Deutschland kommend. Zudem keinen großen Strom, aber ein Kanal. Keine Pirateninsel, aber eine Laube. Keine Reise auf einem Floß, aber eine Flugreise nach Istanbul und das entsprechende Laisser-faire. Nicht Mark Twain verarbeitet hier auf humoristische Art seine Kindheitserinnerungen und verschiedene Milieus der Zeit — Autor dieses Werkes ist Finn-Ole Heinrich, Jahrgang 1982, der mit seinem Debütroman „Räuberhände“ die verschiedenen Milieus einer (west)deutschen Kleinstadt mit ihren typischen, teils außergewöhnlichen Personen beschreibt.

Die Protagonisten des modernen Jungsabenteuers heißen Janik und Samuel, wobei die Geschichte aus Janiks eingeschränkter, fast naiver und sehr subjektiver Perspektive erzählt wird. Der 19jährige Janik kommt aus einem wohl situierten, intakten Elternhaus und wittert ständig Gelegenheit, die Eltern aus ihrer „bürgerlichen Sicherheit“ herauszuschleudern. Im Gegenteil zum gleichaltrigen Samuel – er kommt aus einem zerrütteten Elternhaus: die Mutter Alkoholikerin und „Pennerin“, der Vater unbekannt. Samuel hält sich vorwiegend bei Janik auf, hat dort ein eigenes Bett und einen Schreibtisch, den er feinsäuberlich in Ordnung hält.

Trotz der unterschiedlichen sozialen Herkunft sind Samuel und Janik beste Freunde. Sie haben sich auf dem Gymnasium kennen gelernt. Ihre Freundschaft festigte sich, als Samuel in der 7. Klasse des Raubes beschuldigt worden war – aus diesem Grund kommt der Roman zu seinem Namen „Räuberhände“; und auch, weil Samuel sich seine Fingernägel mit den Zähnen bis zum Rand blutig abkaut. Als man Samuel anschuldigte, war Janik der einzige Mitschüler, der an seine Unschuld glaubte. Wie sich später herausstellte, war Samuel wirklich unschuldig; Irene, Samuels Mutter, hat sich mit viel Herzblut für ihren Sohn eingesetzt.

Seitdem teilen sich die beiden Protagonisten die jeweiligen Welten, in der sie groß geworden sind. Kurz vor dem Abitur – hier setzt der Haupterzählstrang an – beginnt der Roman: beide lernen gemeinsam in ihrer Datsche „Stambul“, und träumen davon, nach dem Abitur nach Istanbul abzuhauen, um dort eine Bar oder ein Café zu betreiben. Sie fliegen nicht zufällig nach Istanbul, denn seit Samuel erfahren hat, dass sein Vater, den er nie kennen gelernt hat, Türke war, verhält er sich so, wie sich seiner Vorstellung nach Türken verhalten. Er lernt im Selbstkurs Türkisch, singt türkische „Schmalzlieder“ nach und bewegt sich in ihrem Rhythmus.

So fliegen beide nach Istanbul: der eine (Samuel), um die Kultur seines Vaters kennen zu lernen und vielleicht wirklich seinen Vater zu finden, der andere (Janik), um endlich einmal von den Eltern weg zu kommen und auf eigenen Beinen zu stehen. Der Leser merkt jedoch sofort, dass irgendetwas zwischen den beiden nicht stimmt – dass zwischen ihnen etwas vorgefallen sein muss, weswegen simple freundschaftliche Berührungen Janiks bei Samuel zu Abwehrverhalten führen.

Durch Janik bekommt der Leser die Atmosphäre verschiedener Stadtteile von Istanbul vor Augen geführt. Beide Hauptdarsteller laufen zwei Wochen lang von einem Stadtteil zum anderen, ohne jeweils dieselben Straßen zu nutzen. Immer auf der Suche nach einem ultimativen Platz für ihre geplante Gaststätte. Doch das Vorgefallene manifestiert sich immer mehr durch absonderliches Verhalten beider Seiten, so dass Samuel für zwei Wochen krank wird und Janik sich um ihn kümmert.

Doch was war vorgefallen? Tage vor dem Abflug, an Janiks Geburtstag, fand ein Stadtfest statt. Die beiden Hauptdarsteller hatten sehr viel gefeiert, und bei Sonnenuntergang war Samuel plötzlich nicht mehr da. Janik suchte ihn, fand nach einer Weile jedoch Irene, Samuels Mutter, die mal wieder betrunken war. Irene machte Janik an, und beide verschwanden hinter den Buden, wo sie Sex hatten, bis Samuel sie in flagranti erwischte. Über diesen Vorfall verloren die beiden Freunde kaum ein Wort, oder besser: Samuel wollte über diesen Vorfall nicht sprechen, was Janik zur Weißglut brachte.

Nach Samuels Genesung in Istanbul, ruft Janik bei seinen Eltern an, um sie um Geld zu bitten, da er und Samuel mittlerweile pleite sind, und erfährt dabei, dass Irene zwei Tage zuvor beerdigt worden ist. Während Samuel diese Nachricht mit Kühlheit aufnimmt und beschließt, in Istanbul zu bleiben, fliegt Janik hingegen nach Deutschland zurück.

Man erfährt nun in Binnenerzählungen Eigenarten von Janiks Eltern, von Irene, von einem „Penner“ namens Bubu, von Janiks Freundin Lina, sowie von Samuels und Janiks Geburtstagsfeier mit dem bereits erwähnten Sex-Vorfall. Finn-Ole Heinrich begnügt sich aber nicht allein mit den Rückblenden, sondern benutzt auch Vorgriffe, die, raffiniert in kleinerer Schrift und mit eckigen Klammern versehen, als Kapitelüberschriften daherkommen – eine Referenz an die Tradition der Moderne.

Auch gefällt mir der Schreibstil Finn-Ole Heinrichs: Er versteht es sehr gut, Spannungsbögen aufzubauen, so dass der Leser gezwungen ist, das Buch so schnell wie möglich zu lesen, um zu erfahren, wie es weiter geht. Ich habe noch nie zuvor ein Buch so schnell verschlungen wie dieses. Zudem weiß Heinrich, Bilder und Sinnlichkeit im Kopf der Leser zu kreieren. Phantastisch! Auch die Milieubeschreibungen im Roman und der gewollt eingeschränkte Blick Janiks auf die Welt, beispielsweise als er sich Samuels Vater vorstellt, zeugen von Finn-Ole Heinrichs außergewöhnlichem Erzähltalent.

Auffallend ist dabei, dass die Stadt, in der die beiden Freunde wohnen, keinen Namen hat. Die (westdeutsche) Kleinstadt bleibt konturlos und somit austauschbar. Jedoch ist es gleichgültig, ob es sich um Cuxhaven, wo Finn-Ole Heinrich groß geworden ist, Oldenburg, Braunschweig, Saarbrücken, Mönchengladbach oder Aschaffenburg handelt. Denn überall gibt es die immergleichen Einkaufsstraßen, die Sozialwohnungen, die bürgerlichen Viertel oder Schrebergärten. Istanbul stellt einen Gegensatz zu dieser namenlosen Stadt dar: die Bosporus-Metropole erscheint mit Namen, groß und dennoch mit klar voneinander abgrenzbaren Stadtvierteln. So, als ob die deutschen Kleinstädte keine Identität kennen würden.

Und hier sind wir bei einem der Hauptthemen: Heimat und Identität. Wie jeder Heranwachsende stellt sich ihm die Frage der Identität: „Wer bin ich?“. Samuel beantwortet diese Frage, indem er sich in eine türkische Identität flüchtet. Er hofft, mit dieser Identität neu anfangen und sich von der sozial unterprivilegierten deutschen Herkunft der Mutter abgrenzen zu können, nicht nur räumlich, auch kulturell. Janik hingegen grenzt sich in Deutschland weitestgehend durch sein Verhalten von seinen Eltern ab, in der Fremde wird ihm allerdings bewusst, dass ihm etwas fehlt: die Geborgenheit des Elternhauses. Dazu kommt die Erfahrung, dass er ohne ihr Geld nicht leben, ja nicht überleben kann. Und so sehnt er sich nach geordneten Verhältnissen: einem ordentlichen Beruf, einem Haus , einer Frau und Kindern. Es scheint so, als ob erst Istanbul für die beiden Freunde zur wahren Reifeprüfung nach dem Abitur wird.

Mit dem Thema „Identität“ beschäftigt sich der Autor, er ist Student der Filmakademie Hannover, im Übrigen auch als Filmemacher: auf youtube kann man seinen Kurzfilm „The Word I is a Lie“ ansehen. Er unterstreicht in diesem Beitrag, dass es kein einziges „Ich“ gibt, sondern mehrere. – Eine empfehlenswerte und schön umgesetzte Produktion.

Aber nochmals zurück zu seinem geschriebenen Werk: Es ist sowohl vom stilistischen, als auch vom dramatischen Aufbau her ein gelungener Coming-of-Age-Roman. – Und dann ist es doch schade, dass es „nur“ ein Coming-of-Age-Roman geworden ist, denn aus den angerissenen Themen Integration, sozialer Benachteiligung der Unterschicht, Alkoholmissbrauch und Erziehung ließe sich für einen Schriftsteller mehr machen; zumal ließe sich mehr Gesellschaftskritik ausüben. Mit anderen Wörtern: dem Roman fehlt die offen politische Dimension!

Nichtsdestotrotz kann man große Hoffnungen in Finn-Ole Heinrich setzen: Nach diesem Erstling kann man davon überzeugt sein, dass bereits sein nächstes literarisches Werk eine Meisterleistung sein wird. Denn eins hat dieser junge Autor: Talent!

Von Angelo Algieri

Literaturangaben:
HEINRICH, FINN-OLE: Räuberhände. Roman. Mairisch Verlag, Hamburg 2007. 208 S., 15,90 €.


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