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Grundlagen des radikalen Konstruktivismus

Verfaßt von Babette Grabner
zum Seminar: Radikaler Konstruktivismus SS 1999

Vorbemerkung 3

1. Re-Reading philosophischer Schriften 3
1.1. Der Begriff des Wissens 4
1.2. Instrumentalismus 6
1.3. Konstruktivistische Denkweise 7
1.4. Erlebenswelt 8
1.5. Viabilität 9
1.6. Evolutionäre Erkenntnistheorie 12
1.7. Ein konstruktivistischer Vorschlag 12
1.8. Objektivität und Konstruktivismus 14
1.9. Das Subjekt und die Anderen 16
1.10. Kommunikation 18
1.11. Zusammenfassung 21

2. Literaturrezeption 22

Vorbemerkung

In dieser Arbeit möchte ich vorerst versuchen den Überlegungen zum radikalen Konstruktivismus zu folgen, die E. von Glasersfeld im Seminar und in verschiedenen Artikeln angestellt hat. Sein Re-reading philosophischer Schriften der vergangenen 2500 Jahren möchte ich hierin nachvollziehen. Dabei werde ich vor allem einen Artikel aus dem Jahre 1985 und sein Buch "Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ereignisse, Probleme" als Grundlage verwenden.


1. Re-Reading philosophischer Schriften

Besonders Ernst von Glasersfeld hat seiner Theorie des radikalen Konstruktivismus unter anderem ein re-reading verschiedenster philosophischer Schriften zugrunde gelegt. Den von ihm in verschiedenen Texten vorgelegten Möglichkeiten, diese Schriften in einer konstruktivistischen Tradition zu sehen, möchte ich folgen.
Bereits Demokrit stellte im 5. Jahrhundert vor Christus fest,

"...daß wir nicht erkennen können, wie in Wirklichkeit ein jedes Ding beschaffen ist."

In ähnlicher Weise haben sich Xenophanes, Alkmaion und Heraklit geäußert. In den Fragmenten die von diesen Philosophen erhalten sind, hat man das Gefühl, daß sie die Tatsache, nicht fähig zu sein, ein wahres Bild der Wirklichkeit zu gewinnen, als Unzulänglichkeit empfinden.
In der Schule von Phyrron wird die Tatsache des Nicht-Erkennen-Könnens im weiteren nicht auf eine Unzulänglichkeit der Vernunft zurückgeführt, sondern es wird festgestellt, daß es genau die Vernunft ist, die keinen anderen Schluß zuläßt, als daß es dem Erlebenden nicht möglich ist zu erfahren, ob sein Erleben mit einer von ihm unabhängigen Umwelt übereinstimmt. Die Begründung dieser Feststellung ist die, daß es nötig wäre Erlebtes mit nicht Erlebtem - also mit der Wirklichkeit - zu vergleichen. Dabei ergibt sich das Problem, daß es den Menschen nicht möglich ist, anders, als über das Erleben, Dinge der Außenwelt wahrzunehmen und daher können wir nicht feststellen, inwieweit das Wahrgenommene das Gegebene vermindert oder verfälscht.
Descart versuchte diese Thesen zu widerlegen. Sein letztgültiger Satz ‚Cogito ergo sum' kann jedoch auch als Beleg für die von ihm angegriffene These genommen werden, denn alle Versuche, ausgehend von diesem Satz, sicheres Wissen von der realen, wirklichen Welt abzuleiten, schlugen fehl. Die Tatsache, daß man denkt, gibt uns nicht die Möglichkeit aus den "Schranken" die uns unsere Wahrnehmung auferlegt, herauszutreten. Auch das Denken macht es uns nicht möglich, Wahrgenommenes mit Nicht-Wahrgenommenen zu vergleichen weil wir, um Kontakte mit unserer Umwelt zu haben, auf unsere Sinnesorgane angewiesen sind. Descart griff am Ende auf Gott zurück und stellte fest, daß dieser wohl nicht so grausam gewesen sein kann, uns mit trügerischen Sinnen auszustatten.
Im weiteren Verlauf der Geschichte waren es Barkeley und Hume die mit ihren Ausführungen das Weltbild erschütterten. Hume brach mit der Ansicht, daß Ursache und Wirkung einen kausalen Zusammenhang hätten und führte die Erklärung von Vorgängen auf Assoziationen des Erlebenden zurück.
Kant schließlich stellte fest, daß Raum und Zeit als Anschauungsformen des Erlebenden subjektive Phänomene sind.

"Nicht nur die Eigenschaften der Dinge waren nun Erzeugnis des erlebenden Subjekts, sondern auch ihre Dinglichkeit, d. h. ihre Einheit und körperliche Ganzheit, sowie die Struktur der Wirklichkeit schlechthin. Denn Struktur ist für uns unvorstellbar, es sei denn als Anordnung in einem Netz von Beziehungen, von denen keine ohne räumliches Nebeneinander, zeitliches Nacheinander, oder beides, denkbar ist."


1.1. Der Begriff des Wissens

Selbst Kant hat es nicht geschafft, den schon bei den Vorsokratikern üblichen Begriff des Wissens zu ändern. Die Vorstellung der sinnlichen Wahrnehmung, wie sie bereits von den Vorsokratikern angenommen wurde, ist der Grund dafür, daß man der Ansicht war, daß Wissen durch die Tätigkeit des Erkennens hervorgebracht wird.
In Platons Theaithetos wird diese Vorstellung so ausgedrückt:

"Wenn ich wahrnehme, nehme ich etwas wahr - es ist unmöglich, wahrzunehmen, ohne daß da etwas wäre, daß wahrgenommen wird; der Gegenstand, sei er nun süß, bitter oder von anderer Eigenschaft, muß Beziehung haben zu einem Wahrnehmer;..."

Somit war ein Schema der Wahrnehmung (er)-gefunden, daß Jahrhunderte beinahe unhinterfragt Gültigkeit hatte. Der Dualismus den man sich gegenüber sieht, ist folgendermaßen zu beschreiben. Auf der einen Seite die ontischen Dinge in der Realität und auf der anderen Seite der Erlebende der sie mit seinen Sinnesorganen wahrnimmt. Die Übermittlung der Bilder - so die Vorstellung der Vorsokratiker - bzw. der Information - so die Beschreibung heutiger Realisten - ins Bewußtsein läßt den Erlebenden verschiedene Aspekte der ontischen Welt erkennen. Eine Erklärung dieses Vorgangs der Einfuhr von Bildern bzw. Informationen ins Bewußtsein ist bis heute nicht gelungen.
Die Annahme einer Vermittlerrolle der Sinnesorgane bringt es mit sich, daß es zu dem unlösbaren Problem kommt, daß die Wahrnehmung als eine Instanz angenommen wird, die ein wahrhaftes Bild der Umwelt wiedergibt. Die Überprüfung dieses Faktums ist jedoch unmöglich, da wir nicht hinter die Wahrnehmung zurück gehen können. D. h. ohne das Wahrgenommene mit dem Realen zu vergleichen ist auch ein Beweis für die Wahrhaftigkeit der Wahrnehmung nicht möglich. Diese klare Tatsache und die jahrhundertelange Suche nach einem Beweis haben jedoch dieses Begriffsschema nicht zum Scheitern verurteilt, vielmehr war keine Verminderung des Erfolgs auszumachen.
Es gilt für viele noch immer, daß der Mensch in eine bereits strukturierte Welt hinein geboren wird. Die Aufgabe des Menschen ist es , die Strukturen und Gesetze dieser realen Welt zu erkennen. Das Kind und später der Erwachsene sind dazu verdammt durch unermüdliches Suchen und Denken und trotz der Unzuverlässigkeit der Sinnesorgane eine Annäherung an die wahre Welt zu erreichen. Die Frage nach dem ‚wie ein Mensch dies erreichen soll' bleibt unbeantwortet. Es wird statt dessen auf die Wissenschaft verwiesen die uns immer mehr ermöglicht. Warum diese Tatsache ein Beweise oder zumindest Beleg für die Annäherung an die Realität sein soll ist zwar verständlich, aber bei genauer Betrachtung treten Probleme auf. Das Wissen in den Wissenschaften ist nämlich kein Wissen WAS die Realität ausmacht, sondern es ist ein Wissen WIE Dinge funktionieren.
Viele Thesen die lange Zeit als eine ausreichende Erklärung genügt haben und daher als wirklich angesehen werden konnten, wurden im Laufe der Geschichte revidiert. Dies macht die erste Annahme meist nicht unbrauchbar, für bestimmte Situationen mußte nur ein neuer Weg eine neue Überlegung zur Funktionsweise gemacht werden. Aber auch in der neuen Überlegung geht es um das WIE nicht um das WAS.
Zum Beispiel: Das sich die Erde um die Sonne dreht war nicht immer eine so klare Feststellung wie heute. Lange Zeit genügte den Menschen die ‚Wirklichkeit', daß sich die Sonne um die Erde dreht und, daß war es auch, was sie wahrnahmen. An der Sinneswahrnehmung hat sich nichts geändert, aber an der Theorie des WIE die Planetenbewegung vor sich geht.
Das Wissen WIE vermehrt sich heute ständig aber wir sind noch keinen Schritt weiter, wenn es um das Wissen WAS geht. Diese Feststellung soll die Neuerungen in den Wissenschaften keinesfalls herabsetzen, sie soll nur deutlich machen, daß wir, wenn es um die Nähe zur Realität geht , keinen Schritt weiter gekommen sind.

Oder wie E. v. Glasersfeld formuliert:

"Weitgehende Kontrolle über unsere Erlebenswelt gewonnen zu haben bedeutet nämlich keineswegs, daß wir in der Ontologie, d.h. in der Lehre von der absoluten, von uns unabhängigen Wirklichkeit, Fortschritte gemacht haben"


1.2. Instrumentalismus

Es war schon immer sehr schwierig, Menschen von irgendwelchen eingebürgerten Begriffen abzubringen, wie die Frage von Sonne und Erde und der Bewegung zueinander zeigt. Als eine viel schwierigere Aufgabe bezeichnet es E. von Glasersfeld die Menschen davon zu überzeugen, daß es für sie nicht möglich ist über die menschliche Vernunft etwas von der Beschaffenheit der ontischen Welt zu erfassen.
Im Instrumentalismus wird Wissen nicht mehr als Selbstzweck definiert, sondern Wissen ist immer ein Mittel zum Zweck. Es ist nötig, um an Ziele zu gelangen, um in der Welt zu bestehen. Die Wissenschaft kann nach dieser instrumentalistischen Betrachtung nur dem Zweck dienen, Theorien und Erfindungen hervorzubringen, die als Hilfsmittel für die Lösung der Probleme in der Erlebenswelt der Menschen dienen.
Popper versucht dieses instrumentalistische Denken zu entlarven, weil für ihn das Funktionieren in der Lebenswelt keine ausreichende Rechtfertigung für Wissen ist. Außerdem hat er das Problem, daß er die Unerschließbarkeit der ontischen Welt nicht eingestehen kann. Indem Popper bei seinen Ausführungen von der Voraussetzung ausgeht, daß die Dinge die wir Erleben eine Entsprechung der ontischen Wirklichkeit sind. Oder anders ausgedrückt. Er nimmt an, daß die ontische Wirklichkeit Phänomene der Erlebenswelt hervorruft und verursacht.

"...nimmt [er] nun aber die Lösung gerade jenes Problems vorweg, daß die Erkenntnislehre untersuchen soll. Die empirische (d.h. erlebensmäßige) Tatsache, daß eine Theorie allen bisherigen Erfahrungen und Experimenten standgehalten hat, kann nie mehr beweisen als genau das, daß sie standgehalten hat; denn wie die Skeptiker so unwiderleglich gezeigt haben, liegt die Prüfung einer Übereinstimmung von Phänomenen und ontischer Wirklichkeit außerhalb der rational erfaßbaren Erlebenswelt"

Viele heutige Wissenschafter stehen noch immer auf dem Standpunkt, den Popper so vehement vertreten hat. Es ist jedoch noch keinem gelungen das Problem zu lösen.
Heutige Erkenntnistheoretiker werfen dem Instrumentalismus zwei Dinge vor:
1. Instrumentalisten leugnen die ontische Wirklichkeit.
2. Durch die Wissensauffassung des Instrumentalismus wird der Begriff der Objektivität hinfällig.

1.3. Konstruktivistische Denkweise

Der Konstruktivist unterscheidet sich von Philosophen anderer Denkrichtungen dadurch, daß er die Erlebniswelt und die ontische Wirklichkeit in einem anderen begrifflichen Rahmen setzt. Die von anderen Philosophen als Faktum angesehene Übereinstimmung von Erleben und Wirklichkeit wird im Konstruktivismus als eine unbeweisbare Voraussetzung angesehen und es werden andere Begrifflichkeiten eingeführt, die die Beziehung von Erleben und Erlebtem zu beschreiben versuchen. Zu diesem Zweck führt E. von Glasersfeld den Begriff der Viabilität ein.


"Viabilität hieß ursprünglich die Gangbarkeit eines Weges und wurde dann in der Entwicklungsgeschichte für die Überlebensfähigkeit von Arten, Individuen und Mutationen verwendet. Das ist genau der Sinn in dem ich das Wort in der Epistemologie gebraucht habe."

Viabilität ist ein Begriff mit dem das Passen bzw. das Funktionieren von Handlungsweisen ausgedrückt wird. Viabel soll etwas sein, daß in dem Moment des Ausführens mit keinerlei Beschränkungen oder Hindernissen in Konflikt gerät.
Für eine noch deutlichere Erklärung des Begriffes Viabilität verwendet E. von Glasersfeld ein Bild.
Ein blinder Wanderer sucht seinen Weg durch einen Wald zum Fluß. Es gibt natürlich viele verschiedene Wege die der Blinde gehen kann. Er kommt Schritt für Schritt voran und wird immer wieder an Hindernisse stoßen. Irgendwann wird er den Fluß erreichen. Er kann nun einen anderen Weg suchen und so fort, bis er ein ganzes Netz von Wegen durch den Wald kennt. Er wird aber trotzdem kein Bild des Waldes haben, wie es ein Sehender hat. Der Wald wird für ihn immer nur aus einem Netz von Wegen und verschiedenen Hindernissen bestehen.
In ähnlicher Weise kann man sich vorstellen, wie wir ein Bild unserer Lebenswelt erhalten. Durch Versuch und Irrtum, durch Hindernisse die sich uns bei verschiedenen Aktivitäten in den Weg legen bauen wir über die Jahre ein Netz von Verhaltensweisen auf die für uns viabel sind. Wir leben von Anfang an in einer Welt die wir uns erarbeiten und die wir konstruieren. Unsere Welt ist vieldimensional und wenn wir uns das erste Mal eine philosophische Frage stellen, haben wir bereits sehr viele Wege und Hindernisse aus verschiedenste Gesichtspunkten betrachtet.

1.4. Erlebenswelt

Noch einmal zurück zum Beispiel vom Blinden der durch den Wald geht. Ein Beobachter der sieht wie der Blinde den Weg ohne Schwierigkeiten geht, wird daraus schließen, daß der Beobachtete den Wald kennt. Im Gegensatz dazu besteht für den Blinden seine Erfahrung nur aus den Dingen, die er durch sein Gehen erfahren hat. Die Erfahrung Wald besteht für den Blinden aus den Dingen die sich ihm in den Weg stellten. Wald ist die Gesamtheit der Hindernisse. Jeder Baum, Stein, Strauch stellt für die Person ein Hindernis dar und sie wird sie auch so beschreiben, nämlich als Dinge des Scheiterns, des Widerstandes als Dinge die sie hemmen. Er wird jedoch bei jedem neuen Versuch leichter durch den Wald finden , weil die vorher gemachten Erfahrungen ihm helfen. Trotzdem hat er noch immer kein Bild der Gegenstände, die wir als Stein, Baum, usw. bezeichnen.
Hierzu ein Zitat von Georg Simmel:

"...die Nützlichkeit des Erkennens erzeugt zugleich für uns die Gegenstände des Erkennens."

Bei Jakob von Uexküll findet man die Vorstellung, daß die Umwelt wie sie ein Lebewesen sieht, nur aus Bausteinen besteht, die durch Handeln isoliert werden.
Anders ausgedrückt: Unsere Sinnesorgane melden uns das Anstoßen an einen Wider-(Gegen)stand aber die Beschaffenheit des Dings wird uns nicht gemeldet. Daraus ergibt sich die Frage, warum wir dennoch Gegenständen Eigenschaften zuordnen. Diese Zuordnung beruht auf reiner Interpretationsarbeit des Bewußtseins. Die Signale unserer Sinnesorgane werden also interpretiert und ergeben so unser Bild von den Dingen. Wobei bereits bei der Signalverarbeitung individuelle Selektionen stattfinden, die im Zusammenhang mit dem momentanen Handlungsbedarf stehen. Deshalb schlägt E. von Glasersfeld vor bereits im Bereich der Wahrnehmung den Begriff des Passens (=Viabilität) anstelle der Vorstellung einer ikonischen Übereinstimmung zu verwenden.
Im Alltag ist es nicht wichtig, ob mein Bild einer ontische Wirklichkeit ähnelt, es ist einzig die Brauchbarkeit im Handeln bestimmend. Der Erfolg oder Mißerfolg gibt der Wahrnehmung recht bzw. unrecht.

1.5. Viabilität

Der Begriff der Viabilität ist sehr zentral im radikalen Konstruktivismus des E. von Glasersfeld, deshalb ein Abschnitt über die Entstehung und Verwendung des Begriffs in der darwinschen Evolutionstheorie.
Darwin gibt drei zentrale Punkte an, die Evolution vorantreiben. Dies sind Variation,
Auslese und Anpassung.
Die Variation ist dabei der am leichtesten zu klärende Begriff. Es geht einfach nur um Fehler in der Vererbung die zu Veränderungen von Lebewesen führen. Die Veränderungen laufen völlig zufällig ab und werden als Fehler im komplizierten Prozeß der Vermehrung oder als von einem äußeren Faktor beeinflußte Veränderung des Erbgutes beschrieben.
Die Auslese, der zweite Begriff, ist um einiges problematischer. Vor allem, weil er von vielen mißdeutet und mißbraucht wurde. Dabei sind zwei grundlegende Fehler in der Begriffsauslegung zu identifizieren. Der Erste ist die Unterscheidung natürliche Auslese und künstliche Zuchtwahl. Bei der Zuchtwahl geht es um die Optimierung von für den Menschen wünschenswerten Eigenschaften. Vermehrung wird nur bei jenen Individuen gefördert, die die besten Eigenschaften haben; zum Beispiel jene Hühner, die die größten Eier legen. Über Generationen wird sich ein Erfolg zeigen der unter anderem auch davon abhängt, inwieweit die gewünschte Eigenschaft erblich ist. Es kommt mit der Zeit zu einer Erhöhung des Eigewichtes.
Im Unterschied dazu passiert die natürliche Auslese dadurch, daß ein Individuum den Umweltbedingungen schlechter gewachsen ist, als ein anderes. Glasersfeld formuliert wie folgt:

"Die natürliche Auslese arbeitet gegen Unzulänglichkeit, die künstliche Hingegen will Überlegenheit schaffen."

Um nun auf den Begriff der Viabilität zurück zu kommen: Viabilität ist der Versuch Unzulänglichkeiten auszugleichen. Überlegenheit zu erreichen, ist jedoch kein Ziel dieser Aktivität. Das Ziel von Organismen besteht darin, in der Umwelt zu überleben und sich erfolgreich fortzupflanzen. Diese beiden Voraussetzungen sind nötig damit ein Organismus viabel ist.
Viabilität bezieht sich auf die Fähigkeit, innerhalb der Bedingungen unserer Umwelt und trotz der Hindernisse die uns immer wieder im Weg stehen zu überleben. E. von Glasersfeld weitet seinen Viabilitätsbegriff auf die Tierwelt aus und gibt noch ein Faktum zu bedenken: Viabilität ist nicht von der Art und Weise abhängig, die einer Art das Überleben ermöglicht. Der Organismus ist in dem Augenblick viabel, in dem er fähig ist, sein Leben zu erhalten.
Nun zum zweiten Fehler in der Auslegung des Begriffs der Auslese: dabei handelt es sich um das Problem, die Umwelt als ‚Ursache' und die Mittel und Wege als ‚Wirkung' zu beschreiben. Es gibt Tendenzen in der Soziobiologie, die bestimmte Eigenschaften von Tieren auf den Druck der Umwelt zurück führen. Dies würde ein direktes Wirkverhältnis bedeuten: hier die Ursache (Umwelt), dort die Wirkung (Eigenschaft). Dabei wird außer Acht gelassen, daß die Verwirklichung einer Eigenschaft immer nur eine von unzähligen Möglichkeiten ist, die dem Lebewesen genauso das Überleben sichern würden. Wichtig ist, zu sehen daß es nie die Umwelt als Ursache ist, die Eigenschaften bewerkstelligt.
Ein Pferd, das sowohl durch schnelleres Laufen, als auch durch größere Wendigkeit, und durch bessere Sprungkraft seinen Feinden entkommen kann, hat also diese und vermutlich noch andere Möglichkeiten, seine Überlebensmöglichkeiten zu verbessern. (Wobei es nie die direkte Möglichkeit des Pferdes ist, eine dieser Verbesserungen zu erlangen. Es ist immer eine zufällige Veränderung, die es möglich macht, auf irgendeine Weise angepaßter zu sein.)
Dieses Beispiel führt gleich weiter zum dritten Begriff die Anpassung. Anpassung und die Rede vom Überleben des Tüchtigsten führt ebenfalls zu der Annahme, daß Anpassung eine aktive Tätigkeit des Lebewesens ist. Dies ist jedoch ausgeschlossen, da eine Veränderung des Genotyps immer zufällig passiert. Die Veränderung wird weder durch die Umwelt, noch durch das Lebewesen selbst, noch durch erlernte Dinge beeinflußt.
Ein angepaßtes Lebewesen zu sein bedeutet, daß man überlebensfähig ist oder anders gesagt: das Lebewesen ist viabel. Die Viabilität wurde aber weder durch den einzelnen noch durch die Art verursacht, sie beruht nur auf zufälliger Mutationen.

"Angepaßt sein heißt also eigentlich nicht mehr, als überlebt zu haben; jeder Organismus und jede Art, die wir heute lebendig vorfinden, ist darum eo ipso angepaßt."

Die individuelle Anpassung unterscheidet sich natürlich von der oben behandelten genetischen Anpassung. Fehler in der genetischen Anpassung führen zum Aussterben einer Art, Fehler in der individuellen Anpassung können dazu führen, daß daraus angemessene Handlungen abgeleitet werden. Die individuelle Anpassung besteht aus einer gewollten Verhaltensänderung, die die Lebensmöglichkeiten für ein Individuum verbessert.
1.6. Evolutionäre Erkenntnistheorie

Donald Campbell spricht in seiner Theorie von einem zunehmenden Passen des Organismus in seine Umwelt. E. von Glasersfeld bemerkt dazu, daß Campbell den Begriff der Viabilität nicht verwendet, dieser aber durchaus passend erscheint. In einem Punkt vermeidet Campbell jedoch den Begriff des Passens und zwar, wenn es um das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit geht. In dieser Beziehung ist er Erkenntnistheoretiker. Er geht nämlich nach wie vor davon aus, daß sich ein Organismus einer unabhängig von ihm bestehenden Umwelt anpaßt und daß er sein Wissen aus dieser Realität gewinnt. Wissen ist also für Campbell, wie auch für Popper und viele andere nur dann Wissen, wenn es die unabhängig vom Erlebenden bestehende Realität wahrheitsgetreu wiedergibt. Diese Welt besteht unabhängig von den Menschen und bestimmt allein unsere Erlebnisse. Erkennen und Wahrnehmen sind von dieser theoretischen Grundlage aus betrachtet, von außen verursacht. Das Subjekt ist tätig, aber es benötigt ein bereits vorhandenes Objekt zu seiner Tätigkeit. Dieses Objekt wird erkannt und wahrgenommen.
Auch Campell kommt nicht ohne Ontologie aus.

"...so verstrickt man sich immer wieder in das gleiche, alte Problem der westlichen Epistemologie: erkennen zu wollen, was außerhalb der Erlebenswelt liegt. Das Problem ist unlösbar aber es ist nicht unvermeidlich."


1.7. Ein konstruktiver Vorschlag

Im Rückgriff auf den Begriff der Viabilität besteht die Möglichkeit, das herkömmliche Wissensproblem zu umgehen. Hierfür ist es nötig, den Zusammenhang von Wissen und Wirklichkeit auf eine völlig neue Weise zu betrachten. Piaget hat dies erkannt und festgestellt, daß das, was wir Wissen nennen nicht als Kopie der Wirklichkeit betrachtet werden darf. Wissen hängt vielmehr mit einer Anpassungsleistung des Menschen zusammen.
Silvio Ceccato weist ebenfalls darauf hin, daß wahrnehmen und erkennen sich nicht auf ontische Gegenstände beziehen. Diese Tätigkeiten sind vielmehr kreativ. Objekte entstehen als Folge von Wahrnehmung und sind nicht deren ontische Voraussetzung.

"Ein Bild, das wir sehen, ist nicht weniger das Ergebnis eigener Handlungen als ein Bild, das wir malen, ein Loch, das wir graben, oder ein Haus, das wir bauen"

Dies kann so verstanden werden, daß Wahrnehmung eine konstruierende, und keine abbildende Tätigkeit ist. Nun stellt sich natürlich die Frage, warum es negative Wahrnehmungen gibt, wo wir doch alle Dinge selber konstruieren. Es muß irgendein Zusammenhang mit der ontischen Welt bestehen. Auch muß irgendwie sicher gestellt werden daß wir uns verstehen, oder besser erklärt werden,