Werner Stangls Lehrtext.Sammlung
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Dieser hier als mirror vorgehaltene Text hat von 1998 bis 2007 einige Abenteuer erlebt, wie man in dem Artikel Stefan Webers im Magazin TELEPOLIS unter dem Titel "Vom Wissensfortschritt mit stummem h" nachlesen kann.

Literatur:
Weber, Stefan (2007). Vom Wissensfortschritt mit stummem h. TELEPOLIS.
WWW: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25137/1.html (07-04-25)

Daniel Stoller-Schai ist heute als Education Design Manager beim Schweizer Hörgerätehersteller Phonak für internetgestützte Kundeninteraktion zuständig. Er ist Verfasser zahlreicher Arbeiten zum Thema E-Learning und betreibt eine Familienhomepage: http://stoller-schai.ch/, auf der sich auch ein Überblick über seine derzeitigen Aktivitäten finden läßt.


Der Radikale Konstruktivismus nach Ernst v. Glasersfeld

von

Daniel Stoller-Schai

 

Im folgenden möchte ich einen kurzen Abriss über den "Radikalen Konstruktivismus" nach E. v. Glasersfeld geben. Dem Beispiel Glasersfeld folgend, wähle ich den Zugang über dessen Biographie, um danach einige Grundannahmen und die Wurzeln des glaserfeld'schen Konstruktivismus darzustellen. Abgeschlossen wird mit einer kleinen Sammlung prägnanter Zitate.

Zugang zum Konstruktivismus

Ernst von Glasersfeld gilt als Begründer des Radikalen Konstruktivismus. Er wird 1917 als Sohn eines österreichischen Diplomatenehepaares (deutsch/englisch...) geboren und verbringt seine Kindheit in Prag (tschechisch...) und im Südtirol (italienisch...). Als Zehnjähriger wird er in ein Internat nach Zuoz geschickt (...und französisch). Der lebendige Umgang mit vielen Sprachen lassen in früh den Umstand entdecken, dass der Zugang zur Welt in jeder Sprache ein anderer ist (vgl. die Sapir/Whorf-Hypothese: die Struktur der Welt wird durch die Muttersprache festgelegt/geprägt). Glasersfeld beginnt in Wien ein Studium der Mathematik, unterbricht dieses aber für eine Anstellung als Skilehrer in Australien. Kurz vor dem Krieg emigriert Glasersfeld mit seiner Frau nach Irland, wo er den Krieg als Farmer und mit dem Studium der Werke von Berkeley und Giambatista Vico verbringt. Rückblickend sind es nach Glasersfeld diese beiden Denker, die in ihm den Keim des konstruktivistischen Denkens gelegt haben. Nach dem Krieg zieht die Familie nach Meran in Oberitalien, wo Glasersfeld Silvio Ceccato kennenlernt. Ceccato - als studierter Musiker und Philosoph - befasst sich mit Theorien der Semantik und gründet einen interdisziplinären Kreis (Logiker, Linguist, Psychologe, Physiker, Ingenieur, Computerspezialist [1945!]): die 'Italienische operationistische Schule'. Diese Gruppe beschäftigt sich damit, Semantik auf mentale Operationen zurückzuführen. Glasersfeld wird der Uebersetzer der Gruppe und arbeitet die nächsten sechs Jahre als Fachjournalist für die Zeitschrift 'Methodos'. 1951 wird Ceccato von Colin Cherry dazu aufgefordert, seine operationalen Analysen auf maschinelle Uebersetzungsaufgaben anzuwenden. Ceccato gründet in Milano das erste 'Zentrum für Kybernetik' und arbeitet für die amerikanische Luftwaffe. Glasersfeld wird sein Forschungsassistent. Auf dieser Arbeit beruht seine Erfahrung, dass "jede Sprache eine andere begriffliche Welt bedeutet."1In den folgenden Jahren setzt Glasersfeld seine Sprachanalysen und deren maschinelle Umsetzung fort, wobei die fehlende Computerleistung mit Hilfe von Holztafeln und Reisnägeln simuliert wird. Nach dem Tod seiner Frau wechselt Glasersfeld 1969 an die Computerabteilung der 'University of Georgia', wo er aber bald in der Abteilung für Psychologie mit Bob Pollack und Charles Smock zusammenarbeitet, die sich beide mit Wahrnehmung, insbesondere dem Sehvorgang, beschäftigen. Dort macht Glasersfeld für seine weitere konstruktivistische Entwicklung eine folgenschwere Entdeckung: "Unsere Aufmerksamkeit ist also fähig, sich nach Belieben innerhalb des Sehfeldes hin und her zu bewegen, genau wie zwischen Sprachäusserungen, die aus verschiedenen Quellen gleichzeitig im Ohr ankommen."2Sein computerlinguistisches Interesse führt in wenig später zu einer langjährigen Studie am anthropologischen Institut, wo er den Spracherwerb von Schimpansen erforscht. Zu diesem Zweck entwirft er eine Affensprache ("Yerkish") und implementiert diese mit seinem Freund Pisani auf einem der ersten PDP-Rechner.

Ueber Charles Smock wird Glasersfeld schliesslich auch an die Arbeiten Piagets herangeführt und baut darauf seine Vorstellung von Konstruktivismus auf. Bei der piaget'schen Lektüre kommen Glasersfeld einmal mehr seine Sprachkenntnisse zugute: viele Texte erschliessen sich erst, wenn man sie in der Originalsprache lesen kann, da in der Uebersetzung oft spezifische Wortdifferenzierungen nicht übersetzt werden (können). Die Auseinandersetzung mit Piaget führt Glasersfeld zu seiner Konstruktivismustheorie und ihrer eigenen Begrifflichkeit.

In der Zusammenarbeit mit dem an Piaget orientierten Psychologen Leslie Steffe verfeinerte Glasersfeld sein Begriffsinventar und führt mit Steffe zusammen "Lehrexperimente" im mathematischen Unterricht an Schulen durch. Dabei geht es darum, Kinder in mathematischen Versuchsituationen bei der Lösungsfindung (-konstruierung) zu beobachten.

Um sich gegen andere Spielarten des Konstruktivismus abzugrenzen, nennt Glasersfeld die seine "radikal" und formuliert ihre beiden Grundprinzipien:"

  • Wissen wird vom denkenden Subjekt nicht passiv aufgenommen, sondern aktiv aufgebaut.
  • Die Funktion der Kognition ist adaptiv und dient der Organisation der Erfahrungswelt, nicht der Entdeckung der ontologischen Realität."3

Grundannahmen des Konstruktivismus: Eine Skizze

  • Es gibt keine ontologische Realität4. Mit dieser zentralen Aussage bricht der Konstruktivismus radikal mit der Hauptströmung der abendländischen Philosophie, dem Platonismus. Es gibt gemäss dem Radikalen Konstruktivismus keine Realität und keine Ideen hinter den Dingen. Dieser Schluss zwingt sich auf, da jeder Versuch anzugeben, was die Realität ist, in Zirkelschlüssen endet. Es gibt keine Möglichkeit, die Realität der anderen zu erforschen. Jedem Subjekt ist grundsätzlich nur die eigene Realität zugänglich. Es gibt keine Möglichkeit darüber hinaus etwas zu erkennen. Glasersfeld nennt dies einen epistemischen Solipsismus: In meinem Erkennen existiert nur meine Realität.
  • Der radikale Konstruktivismus stellt sich darum gegen jede Form einer Abbildtheorie. Wo es nichts abzubilden gibt, ist auch kein Bedarf nach einer wie auch immer ausgeklügelten Abbildtheorie. Sich in der Welt zurechtzufinden, bedeutet nicht, sein eigenes Abbild der Realität immer mehr zu verfeinern. Glasersfeld geht mit der modernen Neurobiologie5davon aus, dass das Gehirn (über das die Wahrnehmung stattfindet) operational geschlossen ist. Das heisst, von aussen dringen keine Informationen in unser Gehirn ein. Von aussen dringt nur das ein, was aufgrund der neuronalen Strukturen wahrgenommen werden kann (= Assimilation). Widersprüche, die sich daraus ergeben können, dringen nicht als Informationen, sondern lediglich als Perturbationen (Störungen) ins Gehirn und führen dazu, dass die internen Strukturen (die neuronalen und damit auch die mentalen) neue Vernetzungen konstruieren (= Akkomodation). Das keine Form von Information ins Gehirn dringt, zeigt sich auch in der Sprache. Wenn A zu B etwas sagt, so gibt es für B keine Möglichkeit zu erfahren, was sich im Kopf von A dabei abspielt. Wörter können keine Informationen transportieren, es sind lediglich Perturbationen oder bekannte Muster (pattern recognition), die bei B ankommen und die auf die mentalen und neuronalen Strukturen einwirken und sie zu neuen Konstruktionen veranlassen.
    Ob eine subjektive Realitätskonstruktion richtig oder falsch ist, kann nicht beantwortet werden. In der Abbildtheorie ist dies dagegen (vermeintlich) möglich. Die Richtigkeit eines Weltbildes bemisst sich in der Abbildtheorie durch den Abstand des Abbildes zur eigentlichen Realität. Um aber auch die Realitätskonstruktionen im Konstruktivismus bewerten zu können, stellt Glasersfeld einen eigenen Wahrheitsbegriff auf: Er spricht von Viabilität. Eine Realitätskonstruktion ist dann viabel, wenn sie passt, das heisst, wenn sie zum erfolgreichen Ueberleben einer Spezies oder eines Subjekts beiträgt.
  • Aus diesen beiden Punkten lässt sich der Schluss ziehen, dass Wissen nie von aussen kommt. Wissen beruht grundsätzlich auf eigener Erfahrung, auf den eigenen Konstruktionen.

"Auf dieser Grundlage formuliert der Radikale Konstruktivismus mit Hilfe von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung... seine Grundprinzipien:

  1. (a) Wissen wird nicht passiv aufgenommen, weder durch die Sinnesorgane noch durch Kommunikation.
    (b) Wissen wird vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut.
  2. (a) Die Funktion der Kognition ist adaptiver Art, und zwar im biologischen Sinne des Wortes, und zielt auf Passung oder Viabilität;
    (b) Kognition dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts und nicht der 'Erkenntnis' einer objektiven ontologischen Realität."6

Die Wurzeln des Konstruktivismus

Der Radikale Konstruktivismus geht auf vier Wurzeln zurück, die auch die prägenden Elemente der glasersfeld'schen Biographie sind:

  • Epistemologie: Durch die Auseinandersetzung mit dem konstruktivistischen Gedankengut bei fast allen namhaften Philosophen von den Vorsokratikern über Kant bis Merleau-Ponty versucht Glasersfeld den Konstruktivismus als eine alte, wenn auch randständige Denkströmung auszuzeichnen. Das erkenntnistheoretische Grundproblem, dass sich "eine Welt an sich" nicht erkennen lässt, war schon den griechischen Skeptikern bekannt.
    Als Ausweg aus diesem Dilemma diente ab Platon die Metaphysik. Diese wurde aber nicht als Mystik ausgegeben, sondern als 'Angelegenheit der Vernunft: dies nennt Glasersfeld die 'Hypokrisie [Heuchelei] der abendländischen Philosophie':
    "In dieser Situation auch nur von einer Annäherung zu sprechen, das heisst Annäherungen an eine wahre Repräsentation der objektiven Welt, ist sinnlos, denn wenn man keinen Zugang hat zu der Realität, der man sich nähern möchte, kann man auch den Abstand von ihr nicht messen. Darum halte ich es für hypokritisch, die Hoffnung zu nähren, dass Erkenntnis im Laufe wiederholter Erfahrungen der Realität näherkommen kann."7
  • Sprachforschung: Die Auseinandersetzung mit der 'Italienischen Operationistischen Schule' Ceccatos und die darauf basierenden sprachanalytischen Forschungen führten Glasersfeld zu der Ueberzeugung, dass "Wortbedeutung... aufgrund subjektiver Erfahrung aufgebaut"8wird.
    "Wenn ich behaupte, ich hätte verstanden, was jemand zu mir sagt, dann heisst das keineswegs, dass ich mir in meinem Kopf ein Begriffsnetz aufgebaut habe, das dem des Sprechers genau gleicht. Es heisst nichts anderes, als dass es mir gelungen ist, in der gegenwärtigen Situation ein Begriffsnetz zu konstruieren, das mit meiner Auffassung von dem Sprecher in eben dieser Situation vereinbar ist und nicht zu Schwierigkeiten führt. Es scheint mir in die Situation zu passen, und meine Reaktion führt nicht zu Reibungen oder zu Unstimmigkeiten seitens des anderen Sprechers. Wie wir alle wissen, kommt es oft vor - und nicht nur bei Kindern -, dass wir beim nächsten Gebrauch eines Wortes oder Ausdrucks darauf kommen, dass das vorher angenommene Verstandenwerden nur scheinbar war."9
    "Wenn dem so ist, dann kann man sagen, die Sprache übermittelt nicht, sondern, wie Humberto Maturana es ausdrückt, sie orientiert. Das deutet darauf hin, dass die Sprache kein Transportmittel ist, sondern dass man eben durch Sprechen bestenfalls die begriffliche Konstruktion der Zuhörer einschränken und in gewünschte Richtungen leiten kann. Aber man kann ihnen durch Wörter nie das vorschreiben, was man sie denken machen möchte."10
  • Piagets genetische Entwicklungspsychologie: Piagets Bruch mit der gängigen Erkenntnistheorie wird auch von Glasersfeld nachvollzogen:
    "Piaget war offensichtlich der Ansicht, dass Wissen von jedem einzelnen aufgebaut werden muss. Von seinem biologischen Gesichtspunkt aus sah er die Funktion der kognitiven Fähigkeit nicht im Repräsentieren einer ontologischen Realität, sondern als Instrument der Anpassung an die Erlebniswelt. Biologische Anpassung hat nichts mit Abbilden zu tun. Sich anpassen heisst da, Möglichkeiten und Mittel finden, um zwischen den Widerständen und Hindernissen der erlebten Umwelt durchzukommen. In meiner Ausdrucksweise nenne ich das gangbare oder viable Handlungs- und Denkweisen aufbauen."11
  • Kybernetik: Ueber die maschinelle Umsetzung seiner Sprachanalysen übernimmt Glasersfeld die kybernetischen Auffassungen von Selbstregulierung und Information. Für ihn ist das Informationsmodell von Shannon12, das primär für die Uebertragung von Telefondaten entwickelt wurde, immer noch eines der besten Modelle für menschliche Kommunikationsprozesse. Kybernetische Ansätze stützen Glasersfelds Erklärungsansatz eines evolutionären Anpassungsprozesses hin zu viablen Realitätskonstruktionen.
    "Eines der Grundprinzipien der Kybernetik ist, dass Aenderungen nicht kausal, sondern durch den Begriff der Einschränkung erklärt werden, im Sinne von Widerständen oder Störungen, denen dauernd ausgewichen wird."13
    "Die kybernetische Kontrolltheorie hat ihrerseits auch etwas hinzugefügt. Da ist vor allem die Einsicht, dass Organismen, gleichgültig ob es sich um künstliche oder natürliche handelt, auf Perturbationen im eigenen System reagieren und dass sie bestenfalls das Neutralisieren dieser Perturbationen lernen, aber nie etwas über die Aussenwelt, in der ein Beobachter sie sieht. Auf uns und unser Wissen bezogen bedeutet das, dass wir wohl lernen können, Störungen und Unstimmigkeiten in unserem eigenen System zu neutralisieren oder zu verhindern, inwieweit diese Störungen aber von einer Aussenwelt kommen, können wir nicht entscheiden."14

Abschliessende Bemerkungen

Durch den Einfluss Piagets und auch durch die Konzepte Maturanas und Varelas15ist der Konstruktivismus in seiner Begrifflichkeit und seinem Ansatz stark durch die Biologie geprägt.

Nach Glasersfeld war Piaget schon immer an Adaptionsprozessen interessiert, seit er in seiner Jugend das Adaptionsverhalten der Süsswasser-Molusken untersuchte und feststellte, dass es nicht die Umwelt ist, die Verhaltensänderung auslöst, sondern die interne Prozesse im Organismus.

Auch Maturana und Varela - auf die hier nicht weiter eingegangen wird - entwickelten ihre konstruktivistischen und autopoietischen Theorien auf der Basis von Untersuchungen zum Sehvorgang bei Fröschen.

"Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Konstruktivismus für die Kognitionswissenschaft mehrere relevante Implikationen hat:

  1. Repräsentation ist keine Abbildung der Umwelt im kognitiven Apparat; weil
  2. der Zugang zur 'Umwelt' nur über die Repräsentation im neuronalen Substrat laufen kann, ist die Repräsentation der Umwelt von der Struktur des kognitiven Systems determiniert und nicht von der objektiven Struktur der Umwelt (Strukturdeterminismus, Autonomie der kognitiven Organisation); da das kognitive System nur mit eigenen Systemzuständen interagiert (Rekursivität, Selbstbezüglichkeit) dringt
  3. keine Information von 'aussen' ins System ein, sondern Information wird nach Massgabe der Strukturdeterminanten des Systems aus den über die sensorischen Oberflächen eingehenden Daten (Perturbation) erst erzeugt (kognitive und semantische Geschlossenheit). Die im neuronalen System verkörperte Dynamik ist
  4. von daher kein unabhängiges, 'objektives' Wissen über die Aussenwelt, die Wirklichkeit, sondern abhängig von der Struktur des neuronalen Apparates im erkennenden Subjekt."16

Die Zitate

Erkenntnistheorie und empirische Kognitionsforschung

Der Radikale Konstruktivismus sucht als Theorie des Wissens die traditionellen Fragen der Erkenntnistheorie neu zu beantworten. Die genuin philosophischen Fragen danach, was Erkenntnis ist, wie sie erlangt und wie sie gerechtfertigt werden kann, verwandeln sich dabei in die Frage, wie das Substrat aller Erkenntnis, unser Gehirn, Erkenntnis erzeugt. Der Radikale Konstruktivismus vollzieht also die Dichotomie von philosophischer Erkenntnistheorie als Metadisziplin und den empirischen Wissenschaften, die sich mit Kognition beschäftigen, nicht mit. 17

Abschied vom Repräsentationsbegriff

Der Konstruktivismus im Sinne Ernst von Glasersfelds vermeidet es, seinen Ansatz in Verbindung mit Annahmen zu bringen, wie die Welt 'wirklich' ist (Ontologie). Er enthält sich dabei strikt irgendwelcher ontologischer Aussagen. Dabei nimmt er Abschied von der idealistischen Idee, die Welt / Wirklichkeit habe ein immanentes Wesen oder eine immanente Natur, die erkennbar ist. 18

Der Radikale Konstruktivismus verabschiedet sich als Kognitionspsychologie vor allem von dem vorbelasteten Begriff der Repräsentation und geht davon aus, dass Erkennen vor allem ein selbstbezüglicher Prozess ist: Das Subjekt verfügt nur dann über Wissen, wenn es dieses über eigene Operationen im kognitiven Apparat selbst hergestellt hat 19Hier reklamiert Ernst von Glasersfeld eine unhintergehbare, eigenpsychische Basis der Wissenskonstruktion und bezieht eine Position, die er 'epistemischen Solipsismus' nennt. Wissen als Resultat eines Erkenntnisprozesses ist demnach nicht ein Abbilden im Sinne eines Entdeckens der äusseren Wirklichkeit, sondern eher eine Konstruktion der Wirklichkeit. 20

Der Radikale Konstruktivismus

Die Radikalität dieses Ansatzes besteht darin, dass er ein Verständnis von Wissen etabliert, das ohne Ontologie und damit ohne die Idee der repräsentatio im klassischen Sinne auskommen möchte. Demgegenüber favorisiert Glasersfeld ein an der Evolutionstheorie orientiertes Verständnis von Erkenntnis. Kognition hat dann eine adaptive Funktion (Piaget) und besteht nicht in der Abbildung einer objektiven Wirklichkeit, sondern in der Erzeugung von 'passenden' Verhaltensweisen. Glasersfeld benutzt einen instrumentalistischen bzw. pragmatischen Wissensbegriff, demgemäss Wissen in der Konstruktion begrifflicher Gebilde besteht, die noch nicht mit der Erfahrungswelt in Konflikt geraten sind. Diese Konstrukte stimmen nicht mit der ontologischen Welt überein (im Sinne einer Repräsentation), sie müssen nur in das Gesamtkonzept von Erfahrung 'passen'. Wenn diese begrifflichen Gebilde, die der Konstruktivismus 'Wissen' nennt, passen, so heisst dies nicht mehr und nicht weniger, als dass dieses Wisssen sich der Erfahrungswelt als Selektionsmechanismus stellt und dass aus diesem Rückkopplungsprozess ein für den erkennenden Organismus so lange gangbarer ('viabel') Weg erzeugt wird, als dieser sein Ueberleben bzw. seine Anpassung sichert. 21

Unterscheidung von Hypothesen und Fiktionen (nach Vaihinger "Die Philosophie des Als Ob")

Hypothesen, erklärte er, seien Vermutungen, die man unter der Voraussetzung macht, sie würden sich im Laufe weiterer Erfahrungen bestätigen lassen. Fiktionen hingegen seien Erfindungen, von denen man keinerlei Bestätigung erwartet ausser der, dass sie den Aufbau von neuen Hypothesen fördern, die sich ihrerseits dann möglicherweise in der Erfahrung bewähren.

'Solange solche Fiktionen ohne das Bewusstsein, dass sie solche sind, aufgestellt werden, als Hypothesen 22, sind sie eben falsche Hypothesen.' (Vaihinger 1911, S. 27)

Vom radikal konstruktivistischen Standpunkt aus, steht der Fiktion einer aus der Erlebniswelt abgeleiteten ontologischen Realität nichts im Wege. Die Götterwelt der Griechen, die Kosmologien unserer Religionen und der Wissenschaft sowie sämtliche metaphysischen Systeme sind Fiktionen, die für unsere Vorstellung von der Erlebniswelt und unser Handeln in ihr zuweilen fördernd und zuweilen hindernd gewesen sind. Die Fiktion ontischer Realität ist an sich harmlos - solange sie nicht als wahre Erkenntnis hingestellt werden. Wo das geschieht, wird das, was man erfunden hat, auf einmal als eben jene Wahrheit geheiligt, die es zu entdecken galt. Als Radikaler Konstruktivist suche ich, dieser Anmassung vorzubeugen, denn ich halte sie nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich. 23


Die Literatur:

  • Fischer, Ruedi: Abschied von der Hinterwelt? Zur Einführung in den Radikalen Konstruktivismus. In: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma. Hans Ruedi Fischer (Hrsg.). Heidelberg: Carl Auer Verlag 1995, S. 11-34.
  • Glasersfeld, Ernst v.: Die Wurzeln des "Radikalen" Konstruktivismus. In: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma. Hans Ruedi Fischer (Hrsg.). Heidelberg: Carl Auer Verlag 1995, S. 35-46.
  • Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.
  • Maturana, Humberto R. / Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis. Bern: Scherz 1987.
  • Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
  • Shannon, C.: The Mathematical Theory of Communication. Bell System Technical Journal 27 (1948), S. 379-423 und S. 623-656.
  • Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. Berlin: 1911.


Fussnoten

  1. Glasersfeld (1996), 33. -> zum Text
  2. ebd., 37. -> zum Text
  3. ebd., 48. -> zum Text
  4. Eine "Realität An Sich" vs. "eine Realität Als Ob"; vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob, 1911. -> zum Text
  5. vgl. Roth (1992). -> zum Text
  6. Glasersfeld (1996), 96. -> zum Text
  7. Glasersfeld (1995), 36 f. -> zum Text
  8. ebd., 36. -> zum Text
  9. ebd., 38. -> zum Text
  10. ebd., 39. -> zum Text
  11. ebd., 39. -> zum Text
  12. Shannon (1948). -> zum Text
  13. Glasersfeld (1995), 40. -> zum Text
  14. ebd., 41. -> zum Text
  15. vgl. Maturana/Varela (1987). -> zum Text
  16. Fischer (1995), 22. -> zum Text
  17. ebd., 19. -> zum Text
  18. ebd. -> zum Text
  19. Relevant für alle pädagogischen Massnahmen, die sich auf den Konstruktivismus abstützen (Hervorhebung dieser Stelle von mir / D. Stoller). -> zum Text
  20. Fischer (1995), 20. -> zum Text
  21. ebd. -> zum Text
  22. Hervorhebung von mir / D. Stoller. -> zum Text
  23. Glasersfeld (1995), 44. -> zum Text


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letzte Änderung: 21.1.98