von
Daniel Stoller-Schai
Im folgenden möchte ich einen kurzen Abriss
über den "Radikalen Konstruktivismus" nach E. v.
Glasersfeld geben. Dem Beispiel Glasersfeld folgend,
wähle ich den Zugang über dessen Biographie, um
danach einige Grundannahmen und die Wurzeln des
glaserfeld'schen Konstruktivismus darzustellen.
Abgeschlossen wird mit einer kleinen Sammlung
prägnanter Zitate.
Zugang zum Konstruktivismus
Ernst von Glasersfeld gilt als Begründer des
Radikalen Konstruktivismus. Er wird 1917 als Sohn eines
österreichischen Diplomatenehepaares
(deutsch/englisch...) geboren und verbringt seine Kindheit
in Prag (tschechisch...) und im Südtirol
(italienisch...). Als Zehnjähriger wird er in ein
Internat nach Zuoz geschickt (...und französisch). Der
lebendige Umgang mit vielen Sprachen lassen in früh den
Umstand entdecken, dass der Zugang zur Welt in jeder Sprache
ein anderer ist (vgl. die Sapir/Whorf-Hypothese: die
Struktur der Welt wird durch die Muttersprache
festgelegt/geprägt). Glasersfeld beginnt in Wien ein
Studium der Mathematik, unterbricht dieses aber für
eine Anstellung als Skilehrer in Australien. Kurz vor dem
Krieg emigriert Glasersfeld mit seiner Frau nach Irland, wo
er den Krieg als Farmer und mit dem Studium der Werke von
Berkeley und Giambatista Vico verbringt. Rückblickend
sind es nach Glasersfeld diese beiden Denker, die in ihm den
Keim des konstruktivistischen Denkens gelegt haben. Nach dem
Krieg zieht die Familie nach Meran in Oberitalien, wo
Glasersfeld Silvio Ceccato kennenlernt. Ceccato - als
studierter Musiker und Philosoph - befasst sich mit Theorien
der Semantik und gründet einen interdisziplinären
Kreis (Logiker, Linguist, Psychologe, Physiker, Ingenieur,
Computerspezialist [1945!]): die 'Italienische
operationistische Schule'. Diese Gruppe beschäftigt
sich damit, Semantik auf mentale Operationen
zurückzuführen. Glasersfeld wird der Uebersetzer
der Gruppe und arbeitet die nächsten sechs Jahre als
Fachjournalist für die Zeitschrift 'Methodos'. 1951
wird Ceccato von Colin Cherry dazu aufgefordert, seine
operationalen Analysen auf maschinelle Uebersetzungsaufgaben
anzuwenden. Ceccato gründet in Milano das erste
'Zentrum für Kybernetik' und arbeitet für die
amerikanische Luftwaffe. Glasersfeld wird sein
Forschungsassistent. Auf dieser Arbeit beruht seine
Erfahrung, dass "jede Sprache eine andere begriffliche Welt
bedeutet."1In den
folgenden Jahren setzt Glasersfeld seine Sprachanalysen und
deren maschinelle Umsetzung fort, wobei die fehlende
Computerleistung mit Hilfe von Holztafeln und
Reisnägeln simuliert wird. Nach dem Tod seiner Frau
wechselt Glasersfeld 1969 an die Computerabteilung der
'University of Georgia', wo er aber bald in der Abteilung
für Psychologie mit Bob Pollack und Charles Smock
zusammenarbeitet, die sich beide mit Wahrnehmung,
insbesondere dem Sehvorgang, beschäftigen. Dort macht
Glasersfeld für seine weitere konstruktivistische
Entwicklung eine folgenschwere Entdeckung: "Unsere
Aufmerksamkeit ist also fähig, sich nach Belieben
innerhalb des Sehfeldes hin und her zu bewegen, genau wie
zwischen Sprachäusserungen, die aus verschiedenen
Quellen gleichzeitig im Ohr ankommen."2Sein
computerlinguistisches Interesse führt in wenig
später zu einer langjährigen Studie am
anthropologischen Institut, wo er den Spracherwerb von
Schimpansen erforscht. Zu diesem Zweck entwirft er eine
Affensprache ("Yerkish") und implementiert diese mit seinem
Freund Pisani auf einem der ersten PDP-Rechner.
Ueber Charles Smock wird Glasersfeld schliesslich auch an
die Arbeiten Piagets herangeführt und baut darauf seine
Vorstellung von Konstruktivismus auf. Bei der piaget'schen
Lektüre kommen Glasersfeld einmal mehr seine
Sprachkenntnisse zugute: viele Texte erschliessen sich erst,
wenn man sie in der Originalsprache lesen kann, da in der
Uebersetzung oft spezifische Wortdifferenzierungen nicht
übersetzt werden (können). Die Auseinandersetzung
mit Piaget führt Glasersfeld zu seiner
Konstruktivismustheorie und ihrer eigenen
Begrifflichkeit.
In der Zusammenarbeit mit dem an Piaget orientierten
Psychologen Leslie Steffe verfeinerte Glasersfeld sein
Begriffsinventar und führt mit Steffe zusammen
"Lehrexperimente" im mathematischen Unterricht an Schulen
durch. Dabei geht es darum, Kinder in mathematischen
Versuchsituationen bei der Lösungsfindung
(-konstruierung) zu beobachten.
Um sich gegen andere Spielarten des Konstruktivismus
abzugrenzen, nennt Glasersfeld die seine "radikal" und
formuliert ihre beiden Grundprinzipien:"
- Wissen wird vom denkenden Subjekt nicht passiv
aufgenommen, sondern aktiv aufgebaut.
- Die Funktion der Kognition ist adaptiv und dient der
Organisation der Erfahrungswelt, nicht der Entdeckung der
ontologischen Realität."3
Grundannahmen des Konstruktivismus: Eine Skizze
- Es gibt keine ontologische Realität4.
Mit dieser zentralen Aussage bricht der Konstruktivismus
radikal mit der Hauptströmung der
abendländischen Philosophie, dem Platonismus. Es
gibt gemäss dem Radikalen Konstruktivismus keine
Realität und keine Ideen hinter den
Dingen. Dieser Schluss zwingt sich auf, da jeder Versuch
anzugeben, was die Realität ist, in
Zirkelschlüssen endet. Es gibt keine
Möglichkeit, die Realität der anderen zu
erforschen. Jedem Subjekt ist grundsätzlich nur die
eigene Realität zugänglich. Es gibt keine
Möglichkeit darüber hinaus etwas zu
erkennen. Glasersfeld nennt dies einen epistemischen
Solipsismus: In meinem Erkennen existiert nur
meine Realität.
- Der radikale Konstruktivismus stellt sich darum gegen
jede Form einer Abbildtheorie. Wo es nichts
abzubilden gibt, ist auch kein Bedarf nach einer wie auch
immer ausgeklügelten Abbildtheorie. Sich in der Welt
zurechtzufinden, bedeutet nicht, sein eigenes Abbild
der Realität immer mehr zu verfeinern.
Glasersfeld geht mit der modernen Neurobiologie5davon
aus, dass das Gehirn (über das die Wahrnehmung
stattfindet) operational geschlossen ist. Das
heisst, von aussen dringen keine Informationen in unser
Gehirn ein. Von aussen dringt nur das ein, was aufgrund
der neuronalen Strukturen wahrgenommen werden kann (=
Assimilation). Widersprüche, die sich daraus ergeben
können, dringen nicht als Informationen, sondern
lediglich als Perturbationen (Störungen) ins
Gehirn und führen dazu, dass die internen Strukturen
(die neuronalen und damit auch die mentalen) neue
Vernetzungen konstruieren (= Akkomodation). Das keine
Form von Information ins Gehirn dringt, zeigt sich auch
in der Sprache. Wenn A zu B etwas sagt, so gibt es
für B keine Möglichkeit zu erfahren, was sich
im Kopf von A dabei abspielt. Wörter können
keine Informationen transportieren, es sind lediglich
Perturbationen oder bekannte Muster (pattern
recognition), die bei B ankommen und die auf die
mentalen und neuronalen Strukturen einwirken und sie zu
neuen Konstruktionen veranlassen.
Ob eine subjektive Realitätskonstruktion richtig
oder falsch ist, kann nicht beantwortet werden. In der
Abbildtheorie ist dies dagegen (vermeintlich)
möglich. Die Richtigkeit eines Weltbildes bemisst
sich in der Abbildtheorie durch den Abstand des Abbildes
zur eigentlichen Realität. Um aber auch die
Realitätskonstruktionen im Konstruktivismus bewerten
zu können, stellt Glasersfeld einen eigenen
Wahrheitsbegriff auf: Er spricht von
Viabilität. Eine Realitätskonstruktion
ist dann viabel, wenn sie passt, das heisst, wenn
sie zum erfolgreichen Ueberleben einer Spezies oder eines
Subjekts beiträgt.
- Aus diesen beiden Punkten lässt sich der Schluss
ziehen, dass Wissen nie von aussen kommt. Wissen beruht
grundsätzlich auf eigener Erfahrung, auf den eigenen
Konstruktionen.
"Auf dieser Grundlage formuliert der Radikale
Konstruktivismus mit Hilfe von Piagets Theorie der
kognitiven Entwicklung... seine
Grundprinzipien:
- (a) Wissen wird nicht passiv aufgenommen,
weder durch die Sinnesorgane noch durch
Kommunikation.
(b) Wissen wird vom denkenden Subjekt aktiv
aufgebaut.
- (a) Die Funktion der Kognition ist adaptiver
Art, und zwar im biologischen Sinne des Wortes,
und zielt auf Passung oder Viabilität;
(b) Kognition dient der Organisation der
Erfahrungswelt des Subjekts und nicht der
'Erkenntnis' einer objektiven ontologischen
Realität."6
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Die Wurzeln des Konstruktivismus
Der Radikale Konstruktivismus geht auf vier Wurzeln
zurück, die auch die prägenden Elemente der
glasersfeld'schen Biographie sind:
- Epistemologie: Durch die Auseinandersetzung
mit dem konstruktivistischen Gedankengut bei fast allen
namhaften Philosophen von den Vorsokratikern über
Kant bis Merleau-Ponty versucht Glasersfeld den
Konstruktivismus als eine alte, wenn auch
randständige Denkströmung auszuzeichnen. Das
erkenntnistheoretische Grundproblem, dass sich "eine
Welt an sich" nicht erkennen lässt, war schon
den griechischen Skeptikern bekannt.
Als Ausweg aus diesem Dilemma diente ab Platon die
Metaphysik. Diese wurde aber nicht als Mystik
ausgegeben, sondern als 'Angelegenheit der Vernunft:
dies nennt Glasersfeld die 'Hypokrisie
[Heuchelei] der abendländischen
Philosophie':
"In dieser Situation auch nur von einer Annäherung
zu sprechen, das heisst Annäherungen an eine wahre
Repräsentation der objektiven Welt, ist sinnlos,
denn wenn man keinen Zugang hat zu der Realität, der
man sich nähern möchte, kann man auch den
Abstand von ihr nicht messen. Darum halte ich es für
hypokritisch, die Hoffnung zu nähren, dass
Erkenntnis im Laufe wiederholter Erfahrungen der
Realität näherkommen kann."7
- Sprachforschung: Die Auseinandersetzung mit
der 'Italienischen Operationistischen Schule' Ceccatos
und die darauf basierenden sprachanalytischen Forschungen
führten Glasersfeld zu der Ueberzeugung, dass
"Wortbedeutung... aufgrund subjektiver Erfahrung
aufgebaut"8wird.
"Wenn ich behaupte, ich hätte verstanden, was jemand
zu mir sagt, dann heisst das keineswegs, dass ich mir in
meinem Kopf ein Begriffsnetz aufgebaut habe, das dem des
Sprechers genau gleicht. Es heisst nichts anderes, als
dass es mir gelungen ist, in der gegenwärtigen
Situation ein Begriffsnetz zu konstruieren, das mit
meiner Auffassung von dem Sprecher in eben dieser
Situation vereinbar ist und nicht zu Schwierigkeiten
führt. Es scheint mir in die Situation zu passen,
und meine Reaktion führt nicht zu Reibungen oder zu
Unstimmigkeiten seitens des anderen Sprechers. Wie wir
alle wissen, kommt es oft vor - und nicht nur bei Kindern
-, dass wir beim nächsten Gebrauch eines Wortes oder
Ausdrucks darauf kommen, dass das vorher angenommene
Verstandenwerden nur scheinbar war."9
"Wenn dem so ist, dann kann man sagen, die Sprache
übermittelt nicht, sondern, wie Humberto Maturana es
ausdrückt, sie orientiert. Das deutet darauf hin,
dass die Sprache kein Transportmittel ist, sondern dass
man eben durch Sprechen bestenfalls die begriffliche
Konstruktion der Zuhörer einschränken und in
gewünschte Richtungen leiten kann. Aber man kann
ihnen durch Wörter nie das vorschreiben, was man sie
denken machen möchte."10
- Piagets genetische Entwicklungspsychologie:
Piagets Bruch mit der gängigen Erkenntnistheorie
wird auch von Glasersfeld nachvollzogen:
"Piaget war offensichtlich der Ansicht, dass Wissen von
jedem einzelnen aufgebaut werden muss. Von seinem
biologischen Gesichtspunkt aus sah er die Funktion der
kognitiven Fähigkeit nicht im Repräsentieren
einer ontologischen Realität, sondern als Instrument
der Anpassung an die Erlebniswelt. Biologische Anpassung
hat nichts mit Abbilden zu tun. Sich anpassen heisst da,
Möglichkeiten und Mittel finden, um zwischen den
Widerständen und Hindernissen der erlebten Umwelt
durchzukommen. In meiner Ausdrucksweise nenne ich das
gangbare oder viable Handlungs- und Denkweisen
aufbauen."11
- Kybernetik: Ueber die maschinelle Umsetzung
seiner Sprachanalysen übernimmt Glasersfeld die
kybernetischen Auffassungen von Selbstregulierung und
Information. Für ihn ist das Informationsmodell von
Shannon12, das
primär für die Uebertragung von Telefondaten
entwickelt wurde, immer noch eines der besten Modelle
für menschliche Kommunikationsprozesse.
Kybernetische Ansätze stützen Glasersfelds
Erklärungsansatz eines evolutionären
Anpassungsprozesses hin zu viablen
Realitätskonstruktionen.
"Eines der Grundprinzipien der Kybernetik ist, dass
Aenderungen nicht kausal, sondern durch den Begriff der
Einschränkung erklärt werden, im Sinne von
Widerständen oder Störungen, denen dauernd
ausgewichen wird."13
"Die kybernetische Kontrolltheorie hat ihrerseits auch
etwas hinzugefügt. Da ist vor allem die Einsicht,
dass Organismen, gleichgültig ob es sich um
künstliche oder natürliche handelt, auf
Perturbationen im eigenen System reagieren und dass sie
bestenfalls das Neutralisieren dieser Perturbationen
lernen, aber nie etwas über die Aussenwelt, in der
ein Beobachter sie sieht. Auf uns und unser Wissen
bezogen bedeutet das, dass wir wohl lernen können,
Störungen und Unstimmigkeiten in unserem eigenen
System zu neutralisieren oder zu verhindern, inwieweit
diese Störungen aber von einer Aussenwelt kommen,
können wir nicht entscheiden."14
Abschliessende Bemerkungen
Durch den Einfluss Piagets und auch durch die Konzepte
Maturanas und Varelas15ist
der Konstruktivismus in seiner Begrifflichkeit und seinem
Ansatz stark durch die Biologie geprägt.
Nach Glasersfeld war Piaget schon immer an
Adaptionsprozessen interessiert, seit er in seiner Jugend
das Adaptionsverhalten der Süsswasser-Molusken
untersuchte und feststellte, dass es nicht die Umwelt ist,
die Verhaltensänderung auslöst, sondern die
interne Prozesse im Organismus.
Auch Maturana und Varela - auf die hier nicht weiter
eingegangen wird - entwickelten ihre konstruktivistischen
und autopoietischen Theorien auf der Basis von
Untersuchungen zum Sehvorgang bei Fröschen.
"Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der
Konstruktivismus für die
Kognitionswissenschaft mehrere relevante
Implikationen hat:
- Repräsentation ist keine Abbildung der
Umwelt im kognitiven Apparat; weil
- der Zugang zur 'Umwelt' nur über die
Repräsentation im neuronalen Substrat
laufen kann, ist die Repräsentation der
Umwelt von der Struktur des kognitiven Systems
determiniert und nicht von der objektiven
Struktur der Umwelt (Strukturdeterminismus,
Autonomie der kognitiven Organisation); da das
kognitive System nur mit eigenen
Systemzuständen interagiert
(Rekursivität, Selbstbezüglichkeit)
dringt
- keine Information von 'aussen' ins System
ein, sondern Information wird nach Massgabe der
Strukturdeterminanten des Systems aus den
über die sensorischen Oberflächen
eingehenden Daten (Perturbation) erst erzeugt
(kognitive und semantische Geschlossenheit). Die
im neuronalen System verkörperte Dynamik
ist
- von daher kein unabhängiges,
'objektives' Wissen über die Aussenwelt,
die Wirklichkeit, sondern abhängig von der
Struktur des neuronalen Apparates im erkennenden
Subjekt."16
|
Die Zitate
Erkenntnistheorie und empirische
Kognitionsforschung
Der Radikale Konstruktivismus sucht als Theorie
des Wissens die traditionellen Fragen der
Erkenntnistheorie neu zu beantworten. Die genuin
philosophischen Fragen danach, was Erkenntnis ist, wie
sie erlangt und wie sie gerechtfertigt werden kann,
verwandeln sich dabei in die Frage, wie das Substrat
aller Erkenntnis, unser Gehirn, Erkenntnis erzeugt. Der
Radikale Konstruktivismus vollzieht also die Dichotomie
von philosophischer Erkenntnistheorie als Metadisziplin
und den empirischen Wissenschaften, die sich mit
Kognition beschäftigen, nicht mit. 17
Abschied vom Repräsentationsbegriff
Der Konstruktivismus im Sinne Ernst von
Glasersfelds vermeidet es, seinen Ansatz in Verbindung
mit Annahmen zu bringen, wie die Welt 'wirklich' ist
(Ontologie). Er enthält sich dabei strikt
irgendwelcher ontologischer Aussagen. Dabei nimmt er
Abschied von der idealistischen Idee, die Welt /
Wirklichkeit habe ein immanentes Wesen oder eine
immanente Natur, die erkennbar ist. 18
Der Radikale Konstruktivismus verabschiedet sich als
Kognitionspsychologie vor allem von dem vorbelasteten
Begriff der Repräsentation und geht davon aus, dass
Erkennen vor allem ein selbstbezüglicher
Prozess ist: Das Subjekt verfügt nur dann über
Wissen, wenn es dieses über eigene
Operationen im kognitiven Apparat selbst
hergestellt hat 19Hier
reklamiert Ernst von Glasersfeld eine unhintergehbare,
eigenpsychische Basis der Wissenskonstruktion und bezieht
eine Position, die er 'epistemischen Solipsismus' nennt.
Wissen als Resultat eines Erkenntnisprozesses ist demnach
nicht ein Abbilden im Sinne eines Entdeckens der
äusseren Wirklichkeit, sondern eher eine
Konstruktion der Wirklichkeit. 20
Der Radikale Konstruktivismus
Die Radikalität dieses Ansatzes
besteht darin, dass er ein Verständnis von Wissen
etabliert, das ohne Ontologie und damit ohne die Idee der
repräsentatio im klassischen Sinne auskommen
möchte. Demgegenüber favorisiert Glasersfeld
ein an der Evolutionstheorie orientiertes
Verständnis von Erkenntnis. Kognition hat dann eine
adaptive Funktion (Piaget) und besteht nicht in
der Abbildung einer objektiven Wirklichkeit, sondern in
der Erzeugung von 'passenden' Verhaltensweisen.
Glasersfeld benutzt einen instrumentalistischen bzw.
pragmatischen Wissensbegriff, demgemäss Wissen in
der Konstruktion begrifflicher Gebilde besteht,
die noch nicht mit der Erfahrungswelt in Konflikt geraten
sind. Diese Konstrukte stimmen nicht mit der
ontologischen Welt überein (im Sinne einer
Repräsentation), sie müssen nur in das
Gesamtkonzept von Erfahrung 'passen'. Wenn diese
begrifflichen Gebilde, die der Konstruktivismus 'Wissen'
nennt, passen, so heisst dies nicht mehr und nicht
weniger, als dass dieses Wisssen sich der Erfahrungswelt
als Selektionsmechanismus stellt und dass aus diesem
Rückkopplungsprozess ein für den erkennenden
Organismus so lange gangbarer ('viabel') Weg erzeugt
wird, als dieser sein Ueberleben bzw. seine Anpassung
sichert. 21
Unterscheidung von Hypothesen und Fiktionen (nach
Vaihinger "Die Philosophie des Als Ob")
Hypothesen, erklärte er, seien Vermutungen,
die man unter der Voraussetzung macht, sie würden
sich im Laufe weiterer Erfahrungen bestätigen
lassen. Fiktionen hingegen seien Erfindungen, von denen
man keinerlei Bestätigung erwartet ausser der, dass
sie den Aufbau von neuen Hypothesen fördern, die
sich ihrerseits dann möglicherweise in der Erfahrung
bewähren.
'Solange solche Fiktionen ohne das Bewusstsein, dass
sie solche sind, aufgestellt werden, als Hypothesen
22, sind sie
eben falsche Hypothesen.' (Vaihinger 1911, S. 27)
Vom radikal konstruktivistischen Standpunkt aus, steht
der Fiktion einer aus der Erlebniswelt abgeleiteten
ontologischen Realität nichts im Wege. Die
Götterwelt der Griechen, die Kosmologien unserer
Religionen und der Wissenschaft sowie sämtliche
metaphysischen Systeme sind Fiktionen, die für
unsere Vorstellung von der Erlebniswelt und unser Handeln
in ihr zuweilen fördernd und zuweilen hindernd
gewesen sind. Die Fiktion ontischer Realität ist an
sich harmlos - solange sie nicht als wahre Erkenntnis
hingestellt werden. Wo das geschieht, wird das, was man
erfunden hat, auf einmal als eben jene Wahrheit
geheiligt, die es zu entdecken galt. Als Radikaler
Konstruktivist suche ich, dieser Anmassung vorzubeugen,
denn ich halte sie nicht nur für falsch, sondern
auch für gefährlich. 23
Die Literatur:
- Fischer, Ruedi: Abschied von der Hinterwelt? Zur
Einführung in den Radikalen Konstruktivismus. In:
Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Zur
Auseinandersetzung um ein neues Paradigma. Hans Ruedi
Fischer (Hrsg.). Heidelberg: Carl Auer Verlag 1995, S.
11-34.
- Glasersfeld, Ernst v.: Die Wurzeln des "Radikalen"
Konstruktivismus. In: Die Wirklichkeit des
Konstruktivismus. Zur Auseinandersetzung um ein neues
Paradigma. Hans Ruedi Fischer (Hrsg.). Heidelberg: Carl
Auer Verlag 1995, S. 35-46.
- Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus.
Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1996.
- Maturana, Humberto R. / Varela, Francisco: Der Baum
der Erkenntnis. Bern: Scherz 1987.
- Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit.
Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen
Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
- Shannon, C.: The Mathematical Theory of
Communication. Bell System Technical Journal 27 (1948),
S. 379-423 und S. 623-656.
- Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. Berlin:
1911.
Fussnoten
- Glasersfeld (1996), 33.
-> zum
Text
- ebd., 37. ->
zum
Text
- ebd., 48. ->
zum
Text
- Eine "Realität An
Sich" vs. "eine Realität Als Ob"; vgl. Vaihinger:
Die Philosophie des Als Ob, 1911. -> zum
Text
- vgl. Roth (1992). ->
zum
Text
- Glasersfeld (1996), 96.
-> zum
Text
- Glasersfeld (1995), 36
f. -> zum
Text
- ebd., 36. ->
zum
Text
- ebd., 38. ->
zum
Text
- ebd., 39. ->
zum
Text
- ebd., 39. ->
zum
Text
- Shannon (1948). ->
zum
Text
- Glasersfeld (1995),
40. -> zum
Text
- ebd., 41. ->
zum
Text
- vgl. Maturana/Varela
(1987). -> zum
Text
- Fischer (1995), 22.
-> zum
Text
- ebd., 19. ->
zum
Text
- ebd. ->
zum
Text
- Relevant für alle
pädagogischen Massnahmen, die sich auf den
Konstruktivismus abstützen (Hervorhebung dieser
Stelle von mir / D. Stoller). -> zum
Text
- Fischer (1995), 20.
-> zum
Text
- ebd. ->
zum
Text
- Hervorhebung von mir /
D. Stoller. -> zum
Text
- Glasersfeld (1995),
44. -> zum
Text
|